Wissenschaftstheorie, wie andere sie sehen
Etwas einfacher und griffiger formuliert es Mohr (2005, S. 6): „Wissenschaftliche Forschung ist die systematische, also disziplinierte und an Methoden und Institutionen gebundene Suche nach gesichertem Wissen, nach Erkenntnis.“ Er beschreibt das Ziel der Wissenschaft und was diese auszeichnet. Ähnlich geht Kornmeier (2007, S. 4) vor, setzt den Fokus aber auf die Arbeitsweise: „Von Intuition und Glauben unterscheidet sich dieses Konstrukt [die Wissenschaft] darin, dass entsprechende Meinungen, Positionen bzw. Aussagen beschrieben und begründet werden müssen.“ Komplettiert wird der Begriff Wissenschaft aber wohl erst, wenn man noch berücksichtigt, was den Wissenschaftler im Idealtypus auszeichnet. „Ich meine, dass initiative Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Suchende sind, immer auf der Suche nach Neuem, und dazu müssen sie – zumindest zeitweise – durch die Welt und Wissenschaft streunen.“ (Vogl 2007, S. 6) Alle drei Teile geben einen Einblick in das, was Wissenschaft ist, und sind an sich richtig, aber erst die Kombination ergibt ein Gesamtbild, das einem ein wahres Verständnis geben kann.
Es stellt sich dennoch die Frage: Wer ist überhaupt ein Wissenschaftler? “The person can be seen as a scientist constantly experimenting with his definition of his existence.” (Pope / Keen 1981, S. 26) Ist also jemand, der ständig sich selbst oder besser die Beschreibung seiner Selbst in Frage stellt grundsätzlich ein Wissenschaftler? Man würde dies wohl eher als Fall für die Psychiatrie bezeichnen, denn als Wesensmerkmal für jemanden der versucht, die Gesellschaft in positiver Weise voranzubringen. Aber Genie und Wahnsinn liegen bekanntermaßen nah beieinander. So bezeichnet das Zitat auch mehr die Arbeitsweise des Wissenschaftlers, denn seine Selbstreflexion. Neben der Einigung auf bestimmte Verfahren und eine eigene Fachsprache, die im Übrigen auch andere Gruppen aufweisen, zeichnet den Wissenschaftler aus, dass er ständig auf der Suche nach der Verbesserung bereits Bekanntem ist. Dies impliziert, dass alles in Frage zu stellen ist, ggf. sogar die Definition der eigenen Existenz. Sobald es bessere Erklärungen gibt, sind die ehemaligen zu verwerfen. Zudem ist Sachlichkeit oberstes Primat. Eigene Interessen oder Vorlieben sind zurückzustellen. Seinen Höhepunkt findet dies darin, sich selbst in Frage zu stellen. Man weiß, dass man ist, aber nicht in welchem Großen und Ganzen man sich befindet. Sei es nun als selbstbestimmtes Wesen, als ein von Gottes Hand gelenktes Geschöpf oder eine Romanfigur in einem Buch. Dieser sehr philosophisch abstrakte Ansatz findet sich in jeder Wissenschaftsform wieder. Vieles, und auch immer mehr, ist erklärbar, gleichzeitig stellt man aber auch fest, dass sich immer wieder neue Rätsel auftun. Diese zu lösen bzw. im Kleinen daran mitzuarbeiten und mehr und mehr Erkenntnisse zu gewinnen, kennzeichnet den Wissenschaftler.
Tatsachen stehen konträr zu persönlichen Meinungen. Sie sind objektiv oder scheinen es zumindest zu sein und nicht subjektiv. Sie werden durch Erfahrungen, Beobachtungen und Experimente gewonnen und sind somit empirisch belegbar. Die Objektivität scheitert allerdings daran, dass jeder rein physikalisch-anatomisch betrachtet wohl das gleiche sieht, aber unterschiedlich aufnimmt und mit bereits vorhandenen Kenntnissen verknüpft. Die Erkenntnis, die Beobachtung, ist dadurch aber immer dem Risiko ausgesetzt unterschiedlich zu sein; sowohl zwischen verschiedenen Forschern als auch bei einem einzelnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dies ist in allen Disziplinen gegeben, wenn auch in verschiedener Ausprägung. So ist sie z. B. in der Physik durch die quantitative Operationalisierbarkeit gering, was dazu führte, dass die hier verwendeten o. g. Methoden zum Standard bzw. Anspruch an wissenschaftliche Untersuchungen wurden. Tatsachen sind erst dann widerlegt, wenn dies mit anerkannten Verfahren geschehen kann. Diese können die bereits vorhanden sein oder neue. Ein Verfahren wird aber erst dann anerkannt und eine Theorie zur Tatsache, wenn diese Sachverhalte besser erklären als die bereits vorhandenen Ansätze. Die ehemalige Tatsache wird damit zu einer überkommenen Theorie degradiert. Treffend formuliert Chalmers (2007, S. 2) dies am Beispiel der Relativitätstheorie, die erst dann überkommen sein kann, wenn plausiblere Ansätze gefunden wurden: „Tatsachen bedingen die Überlegenheit der einsteinschen Erkenntnisse über vorangegangene Ansätze zur Relativität, und jeder, der dies nicht anerkennt, irrt.“
Alltagssprache und Wissenschaftssprache unterscheiden sich voneinander. Dies wird anhand des folgenden Sachverhaltes verdeutlicht.
An einem trüben Oktobernachmittag regnet es seit mehreren Stunden.
Alltagssprache: Dieses Wochenende regnet es wieder wie aus Eimern.
Wissenschaftssprache: Am 17.10.2009 wurden 20mm Niederschlagshöhe gemessen, die Sonnenscheindauer betrug zwei Stunden.
Die Wissenschaftssprache ist im Gegensatz zur Alltagssprache sachlich präzise und emotionslos. Sie bezieht alle wesentlichen Daten mit ein. Hierdurch ermöglicht sie den direkten und unmissverständlichen Vergleich zweier Sachverhalte, z. B. der Niederschlagsmenge und Sonnenscheindauer an verschiedenen Tagen. Die erfassten sind in diesem Fall quantitativ verwertbar und stehen damit Querschnittuntersuchungen zur Verfügung. Dies ist allerdings nicht für die Wissenschaft grundsätzlich erforderlich und auch nicht immer möglich. Verzichtet wird aber immer auf wertfüllungsbedürftige Begriffe. Stattdessen sind Begriffe eindeutig definiert und über die zu verwendenden Methoden herrscht Konsens. Somit ist eine Wiederverwendbarkeit der Ergebnisse auch von Dritten gegeben und der Austausch wird erst ermöglicht.
Chalmers, Alan F. (2007): „Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie”, 6. Auflage, Berlin, Heidelberg (Springer).
Pope, Maureen L.; Keen, Terence R. (1981): „Personal construct psychology and education”, London (Acad. Pr.).
Kornmeier, Martin (2007): „Wissenschaftstheorie und wissenschaftliches Arbeiten. Eine Einführung für Wirtschaftswissenschaftler“, Heidelberg (Physica-Verlag).
Mohr, Hans (2005): „Strittige Themen im Umfeld der Naturwissenschaften. Ein Beitrag zur Debatte über Wissenschaft und Gesellschaft“, Berlin, Heidelberg (Springer).
Vogl, Gero (2007): „Wandern ohne Ziel. Von der Atomdiffusion zur Ausbreitung von Lebewesen und Ideen“, Berlin, Heidelberg (Springer).