Allzeitgültige Grundsätze in der Wissenschaft

Chalmers (vgl. 1999, S. 11–22) widerspricht dem positivistischen Ansatz, dass es eine ahistorische, d. h. allzeitgültige, Methodologie in der Wissenschaft gibt. Stattdessen weist er, beispielhaft an der Newtonschen Physik dargestellt, darauf hin, dass sich diese durch neue Entdeckungen und Theorien weiterentwickeln kann. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass es in der Wissenschaft vorherrschende Ansätze gab und gibt. Diese sind etwa vergleichbar mit Modeerscheinungen, die auch wieder an Kraft verlieren und durch andere verdrängt werden. Bestimmend für einen Wandel ist weniger eine wissenschaftstheoretische Weiterentwicklung als vielmehr der Einfluss äußerer Erscheinungen. Nicht die Wissenschaftstheorie, die primär die Aufgabe hat, die Wissenschaft selbst zu reflektieren, sorgt für die bedeutenden Veränderungen, sondern diese geschehen eher zufällig durch neue Erkenntnisse in einzelnen Disziplinen. Jene sind so tiefgreifend, dass sie die vorherigen Grundsätze außer Kraft setzen. Dennoch leistet die Wissenschaftstheorie ihren Beitrag, indem sie die Methoden beschreibt, in Frage stellt und ggf. graduell verbessert. Sie sorgt somit dafür, dass im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb jenseits revolutionärer Veränderungen eine Einigkeit darüber besteht, was Wissenschaft ist: die Suche nach Erkenntnis und Verbesserung auf Basis nicht widerlegbarer Tatsachen unter Inkaufnahme von der Nichterklärbarkeit einiger Phänomene, solange es keine Theorie gibt, die den Gesamtzusammenhang besser darstellt.

Chalmers (1999, S. 18) behauptet: "Wird Poppers Abgrenzungskriterium hinreichend präzise formuliert, um normative Kraft zu erlangen, ergeben sich unerwünschte Konsequenzen für die Wissenschaft." Nach Popper ist eine Theorie dann nicht mehr aufrechtzuerhalten, nicht nur wenn sie falsifiziert wurde, also ein Aspekt des Untersuchungsgegenstandes diesem widerspricht, sondern auch dann, wenn versucht wurde durch Hilfshypothesen etwas zu erklären. Eine Theorie, die vielleicht 99% der Beobachtungen abdeckt, wäre dann nicht mehr wissenschaftlich fundiert. Problematisch wird dieser Ansatz, weil damit sich nahezu alles falsifizieren ließe und man überhaupt keine theoretische Basis mehr hätte. Zwischenschritte, auf denen man aufbauen könnte, existierten nicht. Dies gilt insbesondere auch im naturwissenschaftlichen Bereich. Man denke hier nur an die Erklärung, was Licht eigentlich sei. Je nach Untersuchungsart geht man von Lichtwellen oder Photonen aus.

"Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit!" Kann man die halbe Wahrheit sagen? Schon Aristoteles stellte schließlich fest: "Von etwas, das ist, zu sagen, dass es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, (zu sagen,) dass es ist, ist falsch; während von etwas, das ist, zu sagen, dass es ist, oder von etwas, das nicht ist, (zu sagen,) dass es nicht ist, wahr ist." Bei einer Einzelbetrachtung von Sachverhalten trifft sicherlich die aristotelessche Aussage zu. Hier kann nur etwas wahr oder eben falsch sein. Bei komplexen Sachverhalten sieht es hingegen anders aus. Einzelne Aussagen sind in sich noch wahr oder nicht. Dadurch dass etwas verschwiegen oder aus dem Zusammenhang gerissen wird, ergibt sich aber ein anderes Bild beim Rezipienten als das, welches der Sender als Wahrheit erlebt hat. Unterschiedliche Prägungen zweier Personen können zudem zu verzerrten Bildern führen. Was für den einen dann der Wahrheit entspricht, geht für den anderen durch eine differente Interpretation des Gesagten überhaupt nicht mehr mit der ursprünglichen Sache konform. Bei empirischen Untersuchungen stellt sich die Frage, ab wann etwas als wahr aufgefasst werden kann oder ob das überhaupt möglich ist: einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5%, 1% oder 0,1%? Gelobt sei hier die Informatik. Eine boolesche Abfrage liefert immer den Wert wahr oder falsch und ist beliebig oft reproduzierbar. Interpretationsspielräume sind hier nicht vorhanden.

In der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Typen schriftlicher Werke, z. B. die Literaturarbeit und die empirische Arbeit. Während bei der letzteren die Ermittlung, Verarbeitung und Auswertung von Daten steht, behandelt die Literaturarbeit die Zusammenfassung, Neuinterpretation oder kritische Prüfung bereits vorliegender Ergebnisse. Die empirische Arbeit verarbeitet Primärdaten, die literarische Sekundärdaten, die eventuell nur noch in aggregierter Form vorliegen. Prinzipiell sind auch Mischformen möglich. So weisen empirische Arbeiten eigentlich immer auf bereits ähnliche Untersuchungen hin und vergleichen die gewonnenen Erkenntnisse miteinander. Für völlig neue Ansätze sind Literaturarbeiten nicht geeignet, wohl aber für die Revitalisierung bestehender Forschungsergebnisse, ggf. um sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Chalmers, Alan F. (1999): „Grenzen der Wissenschaft”, Berlin, Heidelberg (Springer).

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